Zirkulation der Farben und Stoffe |
von Dietrich Roeschmann
Ausstellung Bretten
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Auf dem Marché d’Aligre im Pariser Osten war es zuletzt sehr still. Wegen der hohen Infektionszahlen mussten neben Cafés, Restaurants, Boutiquen und Theatern auch sämtliche Märkte in der Stadt schließen. Die Menschen blieben zuhause, der Verkehr ruhte. Stattdessen spazierten nur ein paar Tauben über den Platz nahe des Gare de Lyon und in die plötzliche Ruhe drängten Fragen. Wovon leben jetzt eigentlich die Händler, die hier ihre Waren verkaufen? Und wovon die, die keine Papiere haben? Wann werden sie zurückkehren? Und wie wird sich die Stadt dann verändert haben?
Für Eva Rosenstiel ist der Marché d’aligre ein exemplarischer Ort. Als mehrfache Stipendiatin an der Cité Internationale des Arts war sie in den vergangenen Jahren immer wieder dort, dokumentierte mit der Kamera das Treiben unter freiem Himmel, die Rituale des Handeln, die Gleichzeitigkeit von Ordnung und Chaos, Hektik und Contenance. Längst ist dieser Ort aus ihrem Werk nicht mehr wegzudenken, ist Malanlass und liefert den Malgrund ihrer Werkgruppe „marché“, ist atmosphärischer Resonanzraum, aber auch eine Metapher, die auf schöne Weise die Brücke zwischen den Wirklichkeiten des Marktes und der Malerei schlägt.
Märkte sind Orte in Bewegung – Transitzonen mitten in der Stadt, durch die Menschen strömen und Waren und die Worte der Händler beim Feilschen um den Preis der Früchte oder Stoffe, in denen die Kunden wühlen und dabei immer neue Gebilde schaffen aus Mustern, Farben und Texturen. Blicke und Dinge zirkulieren hier ohne Pause, es gibt keinen Stillstand im Fließen des Materials, und auch dann nicht, wenn Eva Rosenstiel zum Pinsel greift und die Farben unter den Borsten bewegt, um die ungeformten Stoffberge aus der Erinnerung in malerische Illusionen von Satin, Jersey, Krepp oder Seide zu übersetzen. Als Träger dienen ihr auf Aluplatten oder
Leinwandbahnen geplottete, silbrig schimmernde Schwarzweiß-Fotografien vom entspannten Treiben zwischen den Kleiderständen des Marché d’Aligre. Was während des Malprozesses an Farbresten anfällt, landet wiederum auf Dutzenden kleinformatigen Abzügen der immer gleichen Fotografie einer Bananenkiste, in der die Händler ihre Ware transportieren. Auch hier: Alles ist in Bewegung.
Da passt es gut, dass Eva Rosenstiel ihre jüngsten Arbeiten im Kunstverein Bretten zeigt, der ehemaligen Posthalterei unweit des Marktplatzes der Stadt im Kraichgau. Der Titel „Agorá“ ist Programm. In der griechischen Antike galten Märkte nicht nur als Handels- und Festplätze, sondern bildeten als Orte der Kommunikation ein wesentliches Fundament der griechischen Demokratie. Im Austausch mit anderen über den Alltag, über Philosophie und Gesellschaft verwandelte sich das Individuum hier von der Privatperson zum politischen Subjekt. Der Marktplatz ist der Ursprung des öffentlichen Raumes. Seine Größe verweist auf die Welt da draußen, außerhalb der Mauern der Stadt, aus der fremde Dinge und Ideen kommen, die uns davor bewahren, zu schnell an unsere eigenen Grenzen zu stoßen.
Sie liebe es, Stoffe zu malen, sagt Rosenstiel. Schon an der Akademie verlor sie sich in Malereien von Häkeldecken in Serie, später waren es Stoffmuster aus dem Materialarchiv ihrer Großeltern und Urgroßeltern, die in Hüfingen im Schwarzwald einen Textilgeschäft betrieben. Die biografische Affinität zu Stoffen ist ihrer Malerei eingewoben wie ein roter Faden. Das Überbordende der geradezu altmeisterlich gemalten Second-Hand-Kleider und Tücher findet dabei immer Halt in der Wirklichkeit der Marktszenen, die Rosenstiels Kamera mit nüchterner Zurückhaltung dokumentiert. Beide Ebenen scheinen untrennbar miteinander verbunden. Mal umspielen die Tuchbahnen wie farbige Nebelschwaden die Körper der Menschen auf den Breitwandfotografien, mal legen sie sich fragmentiert in mehreren netzartigen Schichten über die Szenerien und kreieren im nahezu vollständigen Überwuchern der Realität ganz eigene Räume, ín denen die Zeit stillzustehen scheint in der zur Form geronnenen Bewegung der Gewebe.
Mit der Präsentation ihrer Arbeiten verstärkt Rosenstiel diesen Eindruck des Schwebens zwischen den Dingen, der Auflösung der Grenzen zwischen Malerei und Fotografie, zwischen Display und Installation. Während ihre jüngsten, großformatigen Leinwandarbeiten der Werkgruppe „place“ hier ungerahmt an der Wand hängen und so über das Malerische der betörenden Stoffkompositionen hinaus ihre textile Materialität ausstellen, liegen in der Mitte des Ausstellungsraumes auf einem Tapeziertisch über 100 postkartengroße Bilder der Serie „Paradiesformat (marché)“ aus wie zum Verkauf. Die strikte Ordnung der Motive – zur Hälfte Schwarzweiß-Fotografien vom Marché d’Aligre, zur Hälfte souverän in Öl oder Acryl skizzierte Tücherknäuel und T-Shirt-Haufen auf weißem Grund – lässt zunächst an ein Memoryspiel denken, repräsentiert tatsächlich aber eine Art Musterbuch der künstlerischen Aneignung von Welt. Es ist eine Aneignung im Modus der unablässigen Bewegung, des Fließens und Mäanderns der Dinge und des sich treiben lassenden Blicks.
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